1777 – Der A-B-C-Buch Krieg
Angeregt von den allgemeinen Bewegungen auf dem Gebiet des Bildungswesens sollten die Geistlichen der beiden protestantischen Konfessionen – Lutheraner und Reformierte – in der Herrschaft Kirchheim „das Schulwesen auf einen besseren Fuß setzen“. Ihr Arbeitsplan war wohl gut ausgedacht, doch fehlten die nötigen Übungsbücher für den Unterricht, besonders aber ein Buch, aus dem die Kinder die Buchstaben und das Buchstabieren erlernen sollten. Um diesen Missstand zu beheben, wollte „die Erziehungsanstalt“ der Herrschaft Kirchheim durch die Herausgabe eines „A-B-C Buchstabier- und Lesebuchs“ abhelfen.
Ende 1776 erschien eine solche Schulfibel unter dem Titel: „ABC Buchstabier- und Lesebuch zu Gebrauch in den protestantischen Schulen der Fürstlich nassau-weilburgischen Landen. Auf gnädigsten Befehl herausgegeben von der gemeinschaftlichen Erziehungsanstalt zu Kirchheim-bolanden.
Um die Einführung des neuen ABC-Buches im ganzen Lande sicher zu stellen, ließ die Regierung im Januar 1777 in allen Orten die Bücher verteilen; jedem Kind wurde ein Exemplar ausgehändigt. Aber wie auf ein allgemeines Signal hin, setzte allerorts der Sturm gegen das neue Schulbuch ein. Die Eltern behielten ihre Kinder zu Hause, andere verboten dem Lehrer den Unterricht in den neuen Büchern, oder gaben ihren Kindern nur die alten mit in die Schule.
Was bewog die Eltern zu dieser ablehnenden Haltung? Die Antwort auf die Frage ergibt sich aus den kirchlichen Verhältnissen jener Zeit. Schon lange Jahre bestand in den nassau-weilburgerischen Dörfern um den Donnersberg eine heftige Fehde zwischen Lutheranern und Reformierten. Fürst Karl Christian ehelichte die Prinzessin Karoline von Nassau-Oranien, eine Holländerin, die sich zum reformierten Glauben bekannte und versuchte schon frühzeitig, eine Union der beiden evangelischen Konfessionen herbeizuführen. Er räumte den Reformierten als Minderheit die selben Rechte ein, wie den Lutheranern und gab den Auftrag, für sie die Paulskirche in Kirchheimbolanden zu bauen. In Albisheim selbst wohnten in jenen Jahren nur 7 reformierte Familien.
Da die Vertreter der „gemeinschaftlichen Erziehungsanstalt“ — evangelische und katholische Geistliche — der Meinung waren, dass die Kinder an kindertümlichen Stoffen das Lesen erlernen sollten, nahmen sie das Vaterunser, die Lob-Gebete, das Glaubensbekenntnis ebenso wenig in die neue Fibel auf, wie christliche Gebete und Sprüche. Darin witterten die Lutheraner eine Gefahr für den Glauben. Aufgestachelt von dem fanatischen Geistlichen Nacke in Wachenheim, setzte Konrad Mann eine von der ganzen Gemeinde Albisheim unterschriebene Erklärung auf, die Annahme des Lesebuches selbst bei Exekution zu verweigern. Eine Bittschrift von 6 Deputierten aus den Dörfern, die sich zu dieser Erklärung bekannten, wurde in Kirchheimbolanden vom Fürsten huldvoll entgegengenommen; aber alle Vorstellungen des Fürsten selbst und seines Beraters von Botzheim fielen bei den Renitenten auf harten Boden.
Die Regierung blieb ebenfalls fest und in den sieben Dörfern wuchs der Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Gerade Albisheim wurde zum Herd der Verschwörung, weil man hier einige Jahre früher das fürstliche Verbot, Kreuze auf die Gräber zu setzen, zu Fall gebracht hatte. Man hinderte die Schulmeister mit brutaler Gewalt das Lesebuch, das „teuflisch Werk“, anzuwenden. Nun versuchte die Regierung die Widerstrebenden durch Arreststrafen zur Vernunft zu bringen und steckte die Haupträdelsführer, unter ihnen den Bauern Nickel Morgenstern und die Gebrüder Decker aus Marnheim, in das Gefängnis von Kirchheimbolanden. Bei ihrer Überführung nach Weilburg wurden sie von Morschheimern und Ilbesheimern befreit und im Triumphzuge nach Hause geleitet. Noch am gleichen Tag rief Nickel Morgenstern in einem Schreiben zum allgemeinen Aufstand auf. Zu Hunderten zogen Einwohner der aufrührerischen Dörfer in die kleine Residenzstadt vor das Amtshaus, wo der geheime Rat von Botzheim sie zu beruhigen suchte. Als ihr Verlangen die übrigen Gefangenen frei zu geben, abgeschlagen wurde, wälzte sich die Menge zum Schloss. Hier konnte der Fürst mit seiner Hausmacht von nur 33 Soldaten den Rebellen nicht entgegentreten. Seine Flucht durch ein Fenster an der Hinterfront des Schlosses nach Oppenheim ging im allgemeinen Gejohle und Gebrüll unter. Die Hilfe, die er vom Kurfürsten von der Pfalz, Karl Theodor, in Mannheim erbeten hatte, kam schon am 20. Februar in Gestalt eines ganzen Bataillons von 800 Mann von Alzey heranmarschiert und angesichts dieser militärischen Demonstration legten sich die stürmischen Wellen im Fürstentum bald.
Mehrere der Demonstranten wurden verhaftet, später allerdings durch Zahlen einer Geldbuße wieder freigelassen. Nickel Morgenstern fand Freunde in benachbarten Landesteilen, die einen Prozess beim Reichskammergericht in Wetzlar anstrengten. Durch viele umständliche Verhandlungen zog man den Prozess in die Länge, mit der Absicht, die gesamte Angelegenheit mit der Zeit zu verwischen.
Als 1777 die Frau und das Söhnlein von Nickel Morgenstern verstorben waren, wurde sein Vermögen konfisziert. Nach Abzug aller Schulden, bleiben ihm noch etwas mehr als 1000 Gulden, er selbst wurde des Landes verbannt. In der Folgezeit pachtete er ein Temporalgut in der Wetterau, das er mit Erfolg bewirtschaftete.
Erst als die französischen Revolutionsheere in die Pfalz kamen und die Herrschaften von Nassau-Weilburg über den Rhein geflohen waren, kehrte Nickel Morgenstern wieder nach Albisheim zurück und verbrachte seinen Lebensabend im Haushalt seiner Tochter. Am 8. April 1806 schloss er für immer die Augen und fand auf dem hiesigen Friedhof die letzte Ruhe.
Verfasser: Ludwig Wasem, Quelle: Festschrift anl. der 1150 Jahr-Feier der Gemeinde Albisheim, 1985.
Digitalisiert und überarbeitet: Rainer Schroedel